am bahnhof meiner kindheit verwandle ich mich augenblicklich in das pubertäre gör, das das städtchen mit 18 verlassen hat. die geschulterten freitagtaschen, die kleine und die grosse, seit bald 20 jahren an meiner seite, geben diesem umstand farbe – ein umstand, der sich die folgenden tage nicht ändern sollte. man bedenke: im normalen leben bin ich ehefrau und mutter von drei kindern. in der stadt meiner kindheit bin ich das kind meiner eltern. das pubertäre gör, das das städtchen mit 18 verlassen hat.
«kind», sagt meine mutter, «zieh dir eine lange hose an. zieh wanderschuhe an!» ich klebe am ganzen körper, aber die vernunft sagt: «deine mutter hat recht. man könnte in eine spritze stehen. man könnte von anderen wanderschuhen zertreten werden. es könnten ganz viele dinge passieren, die in wanderschuhen garantiert nicht passieren.» so ziehe ich die wanderschuhe an, die lange hose, und noch bevor ich das sittertobel erreiche, bin ich eine lebendige schweissbombe. am billenberg lechzen meine füsse nach freiheit, in der genfer ecke muss ich mich bücken und die schuhe lösen, weil sich ein stein bei der ferse breit gemacht hat. meine hände sind so geschwollen, dass ich die wanderschuhe kaum mehr binden kann.
aber ich bin da. an einem ort meiner spätpubertät, dem ort, der zur ostschweizer jugend gehört wie nix anderes. es gibt in der ostschweizer jugend nur ein messgrad: vorher und nachher. das erste mal alleine ins sittertobel ist wie ein ritterschlag zum erwachsen sein. (man bedenke: damals, mit 17, da gab es noch keine handys.) man ist – oder war, damals – drei tage ausser kontrolle der eltern, es sei denn, man hatte solche wie ich, die sich das spektakel auch nicht entgehen liessen, und man wurde für erwachsen genug befunden, zwischen drögelern, besoffenen und anderen spinnern seinen weg zu gehen und heil nach hause zu kommen. so war das, damals. damals spielten mumpitz den clown, herbert grönemeyer zoffte sich auf der bühne mit der festivalleitung, michael hutchence kletterte eine woche vor seinem selbstmord das gerüst hoch und ich fand die red hot chilli peppers cool, weil alle anderen sie auch cool fanden. ich sah kuno lauener in der vordersten reihe bis ich die sicherheit bat, mich rauszulupfen. ich sah, wie göla am sonntagmorgen mit eiern beworfen wurde, ich konnte wochenlang nix anderes singen als: «i can see clearly now the rain has gone» und verliebte mich unsterblich ins pfannestil chammer sexdeet, etc… es gäbe hunderte kleiner und grosser geschichten von damals. ich arbeitete hinter der bühne, sah kleine und grosse stars und fand manche ganz nett und andere extrem doof. so war das, damals.
das letzte mal war ich dort, als rem spielte, und das war hammer. das ist sieben jahre her, und als ich zwischen flammkuchen und chesterfield zu meinen freunden laufe, stelle ich fest, dass sich in den letzten sieben jahren einiges verändert hat. die non-food-stände sind jetzt oben und nicht mehr unten, die migros ist omnipräsent und grün, es ist heiss, und es stehen zelte an orten, wo man früher nicht mal hinsehen durfte. es laufen, fällt mir auf, ganz viele brüste herum, die zu jungen mädchen gehören, ein tenue, in dem ich mich weder jetzt noch damals auf die strasse getraut hätte, schon gar nicht hier, mit diesen besoffenen testosteron-jünglingen, die offensichtlich nur darauf warten, die heisse luft von draussen ins zelt zu tragen. die mädchen tragen flipflops oder riemchensandalen, und ihre zehen sehen alle gesund aus. daneben stehe ich und fühle mich wie hinter einer burka begraben.
züri west und kuno lauener bringen mir meine jugend zurück; kunos hemd ist schon vor beginn der aufführung durchnässt und macht durch die kamera der leinwandübertragung den blick auf eben kein sixpack frei. er singt viele lieder von früher, das verschenkte herz, den alpenflug und sonst noch ein paar. nur 7:7 wieder einmal nicht, und irgendwie hätte der arturo bandini auch dazu gepasst… aber das ist jammern auf hohem niveau. ich stehe oben, schaue zu wie sich das feld im takt bewegt, wie sich die menge spaltet in mitsingenkönnen und nichtmitsingenkönnen und trinke einen schluck wasser. meine mutter meldet sich per sms: «ist es cool?» ja, schreibe ich zurück, es ist cool. wahnsinnig cool.
auf dem gang zur toilette verliere ich meine freundin, finde dafür meinen bruder, der mir zwei schlücke seines biers schenkt, und nur wenig später treffe ich misslavendel und ihren freund, mit denen zusammen ich florence and the machine höre. ich gehe nach hause, als es noch hell ist, muss fast nicht für den bus anstehen und als ich nass, verschwitzt und völlig am ende zu hause ankomme, sage ich meiner mutter als erstes: «morgen gehe ich in sandalen!» da ist es wieder, das pubertäre gör.
die nacht ist kurz und heiss, wie früher, nur dass ich zum ersten mal seit menschengedenken ein bett für mich alleine habe – EIN BETT! KEIN ZELT! KEINE MATRATZE! – und garantiert durchschlafen könnte. um sechs bin ich hell wach, das ist üblicher weise die zeit, in der mein kleiner sohn sein frühstück will, bevor er noch eine oder zwei stunden weiter schläft und ich mit ihm. es dauert seine zeit, bis ich wieder müde bin, aber dann schlafe ich fast bis mittag. frisch geduscht wage ich mich in die migros, proviant kaufen, und bin schon auf dem heimweg wieder komplett nassgeschwitzt. statt ins getümmel fahre ich mit meiner mutter und meinem bruder an einen anderen ort meiner jugend: in die weihern. in der badi hängt ein plakat das werbung macht für mich gerber in den weihern, und auch davon könnte ich jetzt erzählen, wie schön das war, damals… aber für den moment muss es reichen. ich treffe interessanterweise nur eine, die ich kenne, es ist die patin meines sohnes, ich schwimme im weiher und dann meine ich, ready für die toten hosen zu sein.
ich bin es nicht. aber das merke ich erst, als ich mich wieder von frau lavendel verabschiedet habe, mit der und zwei ihrer freundinnen ich im zelt ihres bruders sass und spass hatte, nachdem ich über eine stunde lang ganz alleine auf einer anhöhe gesessen bin und den leuten zugeschaut hatte. ich esse indisch vor den hosen, und vergesse dabei, dass ich dieses essen gar nicht vertrage. es wird mir schlecht, neben mir wird es immer lauter und unkontrollierter und so trete ich den rückzug an, bevor die hosen quicklebendig auf die bühne treten. «was?», kreischt meine mutter, als ich sie, noch wach, klar, vor dem radio antreffe, wo sie, klar, das hosen-konzert aus dem sittertobel hört, «du bist schon da?» das pubertäre gör in mir hätte viele antworten parat, doch ich bin zu müde, zu abgekämpft, und gehe ins bett.
am dritten tag sind die temperaturen um mindestens zehn grad gesunken. ich stehe auf und weiss: das wird mein tag. die dunklen wolken am himmel tun dem enthusiasmus in mir keinen abbruch; ich hab genug proviant, es wird gute musik geben – stress! – und ich habe ein paar dates. was ich nicht bedenke: die schliessfächer sind alle besetzt. restlos. ich muss das ganze gepäck mit runter nehmen, was nicht allzuschlimm ist. schlimmer ist: der bus ins sittertobel ist rappelvoll. ich werde in den bus gestossen, wie wenn es kein gestern und vorgestern gegeben hätte. «wenigstens», sage ich dem mann neben mir, mit dem ich leider auf tuchfühlung gehen muss, «ist die umfallgefahr so ziemlich gering.» der bildschirm, efängs omnipräsent in bussen, sagt, dass man auf essen und trinken verzichten soll, eine vorstellung, die mich zum lachen bringt: versuchen sie mal, pommes zu essen, derweil sie mit ihrem einen arm einen mann umschlingen müssen und von der anderen seite der mundgeruch einer jungen frau ihnen bei jedem atemzug ins gesicht bläst. ich würde, wenn ich könnte, mich vor lachen auf dem busboden krümmen, aber dafür fehlt, wie erwähnt, der platz.
unten im sittertobel passiere ich zum letzten mal das überdimensionale welcome-schild, laufe an zurückgebliebenen alkoholikas in büchsen und flaschen vorbei. die kontrollen sind lasch, ich hätte einiges verbotenes hereinschmuggeln können. aber das wäre kindisch, und ich hab mit der rückkehr meiner inneren pubertät schon genug kind am hals. (es gibt übrigens am openair neuerdings die regel, dass man nur drei liter eigenes gebräu mitnehmen darf, den rest muss man auf dem gelände dem openair abkaufen. einige fanden das offenbar zuviel und überklebten das gelände mit «scheiss-drei-liter-regel» zu. das ist doch kindisch, oder? ein festival braucht die getränke-einnahmen, sonst müssen die ticketpreise noch viel höher rauf – und das kanns ja auch nicht sein. und überhaupt: akzeptieren oder zuhause bleiben, basta.)
es beginnt tatsächlich zu regnen, ich bin in kurzen hosen und wiederum den sandalen da, es ist kein problem, es gibt noch immer viele flipflopper auf dem platz. man sieht wieder mehr grün, viele zelte sind schon abgebaut oder liegen tot im gras. überhaupt, was alles zurück gelassen wird – der horror. ich treffe marinierte nackte pouletschenkel an, würste in plastik, getränke, ungebrauchte kondome, was weiss ich alles – und ich will nicht wissen, wie gross die summe ist, die nutzlos im gras vergammelt. es ist eine wohlstandsgesellschaft, in der wir leben, und in nichts manifestiert sich das so sehr wie im zurück gelassenen abfall eines festivals. aber ich bin nicht zur sozialkritik gekommen, ich gehe zu meiner freundin ins zelt, grille, esse, habe spass, sehe the kooks auf dem bildschirm, weil die zelte davor abgebaut sind, gehe mit meinem alten freund vom ok ein glas wein trinken, hole mir einen regenpariser gegen allzuviel nässe und als ich kurz vor dem ende des paolo-nutini-konzerts beschliesse, den heimweg anzutreten, treffe ich im schnelldurchlauf meine halbe jugend an. das ist schön, das ist schön, das ist heartwarming, und ich gehe nach hause und weiss: ich werde wiederkommen. irgendwann.